Osteogenesis imperfecta – was ist das eigentlich?

Es gibt wohl kaum einen Gendefekt, der mit einem so bildhaften Begriff bezeichnet wird, wie es bei Glasknochen der Fall ist. Der medizinisch korrekte Fachbegriff lautet Osteogenesis imperfecta (unvollkommene Knochenbildung). Beide Begriffe treffen die Realität der allermeisten Betroffenen aber nur sehr unvollkommen. Weder verhalten sich ihre Knochen, als wären sie aus Glas, noch ist ihr Skelett nur unvollkommen ausgebildet. Denn auch wenn das Leitsymptom in der Tat Knochenbrüche sind, so handelt es sich bei dem mit Osteogenesis imperfecta (OI) bezeichneten Phänomen in Wirklichkeit um eine Beeinträchtigung des Bindegewebes. Das wirkt sich daher nicht nur auf die Knochen, sondern unter anderem auch auf Muskeln, Sehnen, Blutgefäße und Bänder, eben auf das gesamte Bindegewebe aus.

Osteogenesis imperfecta ist also in erster Linie eine Bindegewebsstörung. Hervorgerufen wird sie durch verschiedene mögliche Gendefekte, die alle den Kollagenhaushalt beeinflussen. Kollagen, ein körpereigenes Eiweiß, ist eine Struktur des Bindegewebes. Die Chance, mit einem solchen Gendefekt zur Welt zu kommen, ist extrem selten. Man schätzt die Zahl der Betroffenen in Deutschland auf etwa 6.000 Personen.

Ergänzend muß hier gesagt werden, dass sich bei manchen Betroffenen bei der genetischen Diagnostik keinerlei Veränderungen finden lassen. Auch und gerade im Hinblick auf das Auschließen möglicher Misshandlungsvorwürfe gegen Eltern von betroffenen Kindern ist es wichtig zu wissen, dass der fehlende Nachweis einer genetischen Veränderung das Vorliegen einer Osteogenesis imperfecta keinesfalls ausschließt! In Zweifelsfällen sind bildgebende Verfahren oder eine Knochenbiopsie für die Diagnose OI hilfreich.

Und was hat man da so?

Da man unter dem Oberbegriff Osteogenesis imperfecta verschiedene , den Kollagenhaushalt betreffende Gendefekte zusammenfasst, liegt es auf der Hand, dass auch die Symptome der Betroffenen völlig unterschiedlich sind.

Eines der namengebenden Symptome ist der gestörte Knochenstoffwechsel. Dies äußert sich in den allermeisten Fällen in einer erhöhten Neigung zu Knochenbrüchen. Viele der Betroffenen weisen außerdem mehr oder weniger ausgeprägte Verbiegungen der Knochen, meist der langen Röhrenknochen (Arme und Beine) auf. Zu den Symptomen können außerdem eine Skoliose (Verkrümmung der Wirbelsäule) sowie Hypotonie (verringerte Muskelkraft), Schwerhörigkeit, überdehnbare Gelenke und Minderwuchs gehören. Manche Betroffene haben außerdem eine Zahnbeteiligung (Dentinogenesis imperfecta), bei Ihnen kommt es zur Verfärbungen und Brüchigkeit der Zähne.

Tatsächlich gibt es unter den Betroffenen aber eine außergewöhnliche Bandbreite von Verlaufsformen. Keiner der OI-Betroffenen weist alle bekannten Symptome auf. Auch ihre Ausprägung variiert sehr stark. Es ist daher sehr wichtig, bei der Behandlung von Osteogenesis imperfecta (OI) nicht nach Lehrbuch vorzugehen, sondern ein besonderes Augenmerk auf den einzelnen Patienten zu legen – denn jede OI ist anders!

Kann man denn dagegen auch was machen?

Da OI auf veränderte Erbinformationen zurückzuführen ist, gibt es bis heute noch keine Therapie, die Aussicht auf Heilung bietet. Trotzdem gibt es natürlich eine Vielzahl von Therapiemöglichkeiten, die mehr oder weniger erfolgversprechend sind. Aus Platzgründen sind hier nur die drei schulmedizinisch anerkannten Säulen der Therapie erwähnt: Physiotherapie (Krankengymnastik), medikamentöse Behandlung und orthopädische Versorgung.

Physiotherapie und Bewegung

Einige wenige deutsche Kliniken bieten spezielle OI-Sprechstunden an, bei denen sich Betroffene und Angehörige beraten lassen und gemeinsam mit den betreuenden Ärzten einen individuellen, langfristigen Behandlungsplan aufstellen können. Um stützendes Muskelgewebe aufzubauen und Fehlhaltungen und Skelettveränderungen vorzubeugen, gehört für die allermeisten Betroffenen Bewegung in Form von regelmäßiger Physiotherapie ganz selbstverständlich mit zur Therapie und ist auch deren wichtigstes Element. Aber auch Sport (besonders Schwimmen), isometrische Übungen oder der Besuch beim Osteopathen können hilfreich sein. Für alle Betroffenen, die auf Hilfsmittel wie z.B. Rollatoren, Gehstöcke oder Rollstühle angewiesen sind, ist es außerdem sehr wichtig, den selbstbestimmten Umgang damit zu erlernen. Auch dies ist Aufgabe der Physiotherapie.

Medikamente

Für OI-Betroffene mit mittleren oder schweren Verlaufsformen hat sich außerdem die medikamentetöse Behandlung mit Bisphosphonaten bewährt. Diese wirken zwar nicht gegen die erhöhte Knochenbrüchigkeit, hemmen aber den gestörten Knochenabbau und verbessern so die Knochenfestigkeit. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen hat sich eine regelmäßige intravenöse Gabe von Bisphosphonaten als besonders erfolgversprechend erwiesen. Die Häufigkeit von Knochenbrüchen nimmt ebenso ab wie das Auftreten von Knochenschmerzen. Dies wiederum führt zu einer deutlichen Erhöhung der Mobiliät und der Lebensqualität.

Chirurgische/orthopädische Versorgung

Knochenbrüche gehören leider bei den allermeisten Betroffenen zu den im Vordergrund stehenden Sypmtomen. Die Häufigkeit kann stark variieren. Manche brechen sich in ihrem Leben nur selten einen Knochen, andere zählen mehrere Knochenbrüche im Jahr. Allen Verlaufsformen ist aber eines gemeinsam: Die Knochenfestigkeit nimmt mit dem Alter zu und nach der Pubertät kommt es kaum noch zu Knochenbrüchen. Aus diesem Grund wird hier das Hauptaugenmerk auf die Versorgung von Kindern und Jugendlichen gelegt.

Bei Knochenbrüchen können diese in aller Regel konservativ, das heißt mit einer Schienung versorgt werden. Da eine solche Ruhigstellung aber immer zum Abbau von Muskel- und Knochenmasse führt, sollte ein Gips nie länger als wirklich nötig getragen werden. Die Bruchheilung ist bei Kindern mit OI nicht eingeschränkt und dauert nicht länger als bei Kindern ohne OI. Eltern sollten aber darauf achten, dass Knochenbrüche mit möglichst leichten Materialien wie z.B. Scotch Cast geschient werden. Der altertümliche Gips sollte nur in sehr gut begründeten Ausnahmefällen eingesetzt werden.

Bei komplizierten Knochenbrüchen oder starken und beeinträchtigenden Verbiegungen der langen Röhrenknochen hat es sich bewährt, sogenannte Teleskopnägel in die Knochen einzusetzen. Diese Nägel (z.B. Fassier Duval oder Bailey Dubow) bestehen aus zwei ineinandergeschobenen Teilen, die während des Wachstums auseinandergleiten und so den Knochen von innen schienen und stabilisieren. Nach Abschluss der Wachstumsphase ist eine Versorgung mit Teleskopnägeln nicht mehr nötig, die Behandlung kann dann mit Nägeln in gleichbleibender Länge erfolgen. Von einer Behandlung mit Metallplatten oder sogenannten Fixateuren sollte in der Regel abgesehen werden.

Welcher Nagel wann und für wen der richtige ist, sollten die Betroffenen in jedem Fall gemeinsam mit einem Orthopäden/Chirurgen ihres Vertrauens entscheiden. Die allermeisten OI-Familien haben sich irgendwann für einen bestimmten, auf OI spezialisierten Orthopäden/Chirurgen entschieden, mit dem sie ein langjähriges und vertrauenvolles Verhältnis verbindet.

Und wie kann man damit leben?

Diese Frage beschäftigt natürlich vor allem Eltern und Angehörige, die die Diagnose erst kurze Zeit kennen. Tatsächlich kann man mit OI sehr gut leben und hat auch, anders als häufig angenommen, keine verminderte Lebenserwartung. Das bedeutet, die Chancen mit OI ein biblisches Alter zu erreichen sind nicht geringer als bei Menschen ohne OI.

Natürlich kann einen der Alltag immer wieder vor kleinere oder größere Probleme stellen. Dabei handelt es sich aber in der Regel um Probleme, die man mit der Krankenkasse, mit Ämtern oder Betreuungseinrichtungen hat. Kinder mit OI machen genausoviel oder genausowenig Probleme wie Kinder ohne OI. Punkt. Natürlich kann es sein, dass Eltern ihren Alltag umstellen müssen. Es ist von Vorteil, ebenerdig zu wohnen oder einen Aufzug zu haben. Es kann sein, dass man im Beruf immer mal wieder unangekündigt ausfällt, weil das Kind etwas gebrochen hat und ein paar Tage zu Hause bleiben muss. Es kann sein, dass man häufig ins Krankenhaus muss, der Ärger mit der Krankenkasse kommt vielleicht auch noch dazu. Ja, das alles kann einen die Zukunft immer mal wieder schwarz sehen lassen. Aber mit welchem Kind ist das nicht so?

Wir möchten hier nicht herunterspielen, was es bedeutet eine Osteogenesis imperfecta zu haben. Sehr wohl möchten wir aber das Augenmerk darauf lenken, dass es sich bei Kindern mit OI in erster Linie um Kinder und erst in zweiter Linie um Patienten handelt – egal wie schwer sie betroffen sind. Die Mehrzahl von ihnen besucht Regeleinrichtungen und zwar sowohl während der Krabbelstuben- und Kindergartenzeit als auch während der Schulzeit. Menschen mit OI findet man überall. In Schule und Universität, im Sport, in helfenden Berufen, im Theater, in der Musik, als Lehrer oder Verwaltungsbeamte, als Journalisten oder Psychologen, als Juristen, Ärzte oder Medienschaffende. Und auch wenn es auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft noch viel zu tun gibt, kann man doch heute sagen, dass Menschen mit OI der Weg in alle Bereiche gesellschaftlichen Miteinanders grundsätzlich offensteht. Bei Fragen stehen Ihnen unsere fachkundigen Mitglieder gerne zur Verfügung.

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